FN 3514 (34)

Veröffentlicht auf von anna

 

 

Meist hatte ich zu demjenigen hingesehen, der jeweils gesprochen hatte. .

Paul zum Beispiel. Er hatte sachlich und knapp über das berichtet, was bisher bei uns passiert war bzw. was wir erlebt hatten. Als er schwieg, dachte ich noch, so hätte ich auch anfangen können. Nach mir hätten alle ihren Senf dazugegeben und dann hätte ich zusammenfassend erste Schlussfolgerungen gezogen. So blieben mir nur die Schlussfolgerungen.

Dann war Romana an die Reihe gekommen. Nein. Was sie sagte, weiß ich nicht mehr. Ihre Stimme schlug mich mehr in den Bann, als es zehn Mörderbienenvölker hätten tun können. Vielleicht lag das daran, dass ich von der zierlichen Person etwas piepsigeres Zartes erwartet hätte und bisher immer abgelenkt gewesen war. Nun betrachtete ich sie mit tiefem Bedauern über das Unglück des Lebens im Allgemeinen und meines im Besonderen. Warum hatte ich diese Frau nicht früher kennen gelernt? Warum nicht unter Umständen, unter denen sie mich hätte näher kennen lernen wollen? Stattdessen musste ich mich freuen, dass die Frau, die mich zum Vater ihres ersten Kindes erwählt hatte, gerade in relativer Sicherheit war. Die Frau, die ich gerade anhimmelte, hatte von italienischen Wurzeln, Connecticut und Single sein erzählt, aber warum sollte das stimmen, wenn fast alle Details der Lebensläufe erfunden waren? Ich konnte sie mir aber genauso wenig als Lara Croft vorstellen – und sei es nur, weil sie so klein und zart wirkte.

Dass ich sie anstarrte, solange sie sprach, fiel nicht auf. Dass mein Blick aber weiter zu ihr irrte, als ein mittelblonder Durchschnittstyp, der meinte, man sollte ihn Mitch nennen, seinen Psalm aufsagte, das musste ich verbergen, es unterdrücken ... oder es wenigstens versuchen. Mitch outete sich ungewollt. Er sah nicht nur durchschnittlich aus – ich hätte ihn wahrscheinlich auf einer New Yorker Avenue nicht einmal unmittelbar mir stehend wiedererkannt – er machte auch keinen hyperintelligenten Eindruck. Ein Mann fürs Grobe? Wer hatteihn warum ins Team gesteckt?

Ausgerechnet da passierte es. Romana verdrehte die Augen genau in einem Moment, in dem ich sie unauffällig zu betrachten versuchte. Mein Blick erwischte ihren, ihrer meinen. Ich sah schnell verlegen zu Mitch, sie sah verlegen zu Mitch. Ich fühlte mich ertappt und andererseits war mir zum Lachen ... und sie ...

Wenn Mitch während seines Vortrags irgendeine Fähigkeit unter Beweis gestellt hatte, dann die, mit möglichst vielen Worten nichts zu sagen, also Talent zum Politiker zu haben. Er dürfte kaum geahnt haben, dass sein Beitrag den Rahmen für ein Blickspiel zwischen Romana und mir abgab – und ich hätte allzu gern gewusst, ob mich diese Frau nun verführen oder veräppeln wollte, was bei Frauen gelegentlich auf eines hinausläuft.

 

 

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